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Als Athen noch ein Sehnsuchtsort war
Das Archäologische Nationalmuseum zeigt, wie sich der Westen ein Bild von Griechenland machte
ATHEN, im Oktober
Das Bild Westeuropas von den antiken wie den neuzeitlichen Griechen beruht zum guten Teil auf Wunschdenken, Missverständnissen, Projektionen und dem Ausblenden von Tatsachen. Zugleich war es wegen seiner ästhetisch hergestellten
Evidenz so ungemein wirkungsmächtig und erscheint daher schwer zu korrigieren. Wie dieses Bild entstand, ist jetzt in einer kleinen, aber feinen Sonderausstellung im Athener Archäologischen Nationalmuseum zu besichtigen.
Was Antikensammler, Architekten und Maler, Geographen, Händler und Diplomaten überwiegend aus Frankreich, Italien und England in Reiseberichten, Gemälden, Stichen oder gelehrten Folianten zusammentrugen, findet sich hier aus den Beständen der griechischen Parlamentsbibliothek exemplarisch präsentiert, organisiert in vier Routen.
Den Evokationen zwischen Phantasie und Wirklichkeit beigesellt sind fünfunddreißig marmorne Objekte aus den Beständen des Museums.
Die Kombination beider Horizonte enthält zugleich eine erhellende, wenn auch kaum beabsichtigte Pointe: Das lange Zeit nur in Texten fassbare Athen blieb für die Besucher ein Sehnsuchtsort. Keine gute Voraussetzung, um zu sehen, was ist. Zwar
wurden die Beschreibungen und Pläne selbstverständlich immer genauer, und mit Recht haben die “Antiquities of Athens” von James Stuart und Nicholas Revett aus der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts in der Schau einen prominenten Platz inne. Aber die zeichnerische Darstellung des Parthenon, die Jacob Spon 1679, also noch vor der verheerenden Explosion des dort angelegten Pulvermagazins acht Jahre später, seinem Reisebericht beifügte, hat weder mit dem antiken Original noch mit dem osmanischen Umbau viel zu tun.
Von Louis-François Cassas bis Leo von Klenze, also neben und lange Zeit nach Stuart und Revett, wurden reale und fiktive Bauten in atmosphärischen Capricci willkürlich kombiniert, bei antiquarischer Genauigkeit im Detail. In diesem Sinne zeigt die
Schau noch einen anderen wirkmächtigen Zug des sehenden Ignorierens, das emphatisch als Wesensschau deklariert werden konnte: Zeitgenössische Menschen fehlen in den Landschaften und Ruinenkonglomeraten weitgehend. Allenfalls
geben sich drei Hirten ein Stelldichein, oder osmanisch gekleidete Folkloregestalten dienen als Größenmaßstab. Die wirklichen Griechen wollte niemand im Bild haben, weil sie wenig mit den antiken Hellenen gemein zu haben schienen und
eher störten.
Nur ein hölzerner Guckkasten mit wunderbaren stereoskopischen Fotografien aus dem späten neunzehnten Jahrhundert am Eingang der Sonderschau zeigt in den antiken Stätten auch Bewohner der sich rasant zur Metropole
transformierenden Stadt.Ferdinand Lassalle zufolge besteht alle große politische Aktion im Aussprechen dessen, was ist. Vor dem Aussprechen bedarf
es eines möglichst unverstellten Blicks auf die Wirklichkeit. Diesen auf höchstem ästhetischem Niveau verweigert zu haben, um sich selbst zu formen und zu bessern, ist auch ein Blatt der Verflechtungsgeschichte Europas mit Griechenland, mit Folgen
bis heute.
UWE WALTER